Die Allianz – Ein idyllisches Reich des ewigen Friedens. Es gibt keine Krankheiten, Armut oder anderes Leid. Die Menschen dort altern in Würde, und erfreuen sich bis zu ihrem letzten Atemzug bester Gesundheit. Bildung ist ein Grundrecht, von dem nicht nur Wissenschaft und Handwerk profitieren. Jeder hat eine Aufgabe und die Magie spannt ein schützendes Zelt über die gesamte Welt. Es ist das wahrgewordene Paradies, für dessen Erhaltung den zehn regierenden Altmagiern höchstes Ansehen gebührt. Selbst die zurückgezogene Waldhexe, um die sich so viele Mythen ranken, ist in Wahrheit die perfekte Gastgeberin. Die größten Dramen, die ein treuer Allianzbürger zu erwarten hat, sind schlechtes Wetter oder die Aufnahmeprüfung an der Akademie.

So präsentiert sich uns die Welt zumindest im ersten Augenblick. Hier gibt es nur Gutes, die Schlussfolgerung scheint also naheliegend, dass wir es hier mit den Guten zu tun haben.

Auf der anderen Seite stehen zwei heimatlose Brüder – oder genauer gesagt der Ältere der beiden. Kyle ist egoistisch, manipulativ, respektlos und sogar gewalttätig. Mit seinem Verhalten mischt er die perfekte Welt der Allianz ganz schön auf. Er sträubt sich gegen den Unterricht, bedroht Schüler und Lehrer gleichermaßen, und scheint sein früheres Wesen einfach nicht überwinden zu können. Als er schließlich Necropolis findet – eine dunkle, widernatürliche Stadt voller gleichgesinnter Menschen, scheint auch die nächste Schlussfolgerung auf der Hand zu liegen.

Wie Coldmirror sagen würde: „Der ist böse und der bleibt auch böse!“

Tatsächlich war das bis auf wenige Ausnahmen der Konsens für den ersten Band der Trilogie. Mittlerweile wird der eine oder andere Leser aber feststellen müssen, dass es so einfach nicht ist. Das etablierte Weltbild muss überdacht und überarbeitet werden, Rollenbilder gelockert und Sympathien sowie Antipathien neu bewertet werden.

Das Zauberwort heißt Grauzonen. Schwarz-Weiß-Weltbilder und harte Grenzen haben ihre Berechtigungen in vielen Erzählungen, aber das Liber Bellorum ist keine davon. Hier verschwimmen die Definitionen immer wieder – manchmal stärker, manchmal nur ein wenig. Und sogar eindeutig einzuordnende Charaktere oder Ereignisse schlagen gelegentlich Wellen auf die andere Seite. Aber wie bei allem macht auch hier Übung den Meister, und tatsächlich war das Liber die erste Geschichte, bei der ich explizit und bewusst davon Gebrauch gemacht habe. An manchen Stellen merkt man das noch, aber auch kleine Fehler und Imperfektionen spielen diesem Stilmittel in die Hände.

Für mich persönlich sind Grauzonen und weiche Grenzen heute eines der wichtigsten Stilmittel, wenn es um das Erzählen meiner Geschichten geht. Abgesehen davon, dass Grauzonen mehr Raum für Überraschungen bereithalten, bedeuten sie auch, dass nichts je wirklich festgelegt ist und alles Interpretationsspielraum bietet. Jeder Leser kann so seine eigene Wahrnehmung einbringen und die Geschichte zu seiner ganz persönlichen, einzigartigen Erfahrung machen.

Unsere Leserwertung
[Gesamt: 6 Durchschnitt: 4.8]